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Geschichte

Tamagotchi – wie ein digitales Haustier Kultstatus erreichte

Kind spielt mit Tamagotchi
Für eine ganze Generation (und ihre Eltern) haben Tamagotchis einen besonderen Stellenwert Foto: Getty Images
Lars Lubienetzki
Freier Redakteur

14.04.2023, 16:40 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten

Es erscheint heute fast unvorstellbar, wie ein eiförmiges Gerät mit einem monochromen Bildschirm Menschen ernsthaft fast rund um die Uhr beschäftigen kann. Das Tamagotchi hat es jedoch geschafft und ist Ende der 1990er-Jahre ungefähr so beliebt wie Social Media oder das Smartphone heutzutage.

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Allein beim Wort „Tamagotchi“ beginnen auch heute noch bei vielen Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren die Augen zu leuchten. Das digitale Haustier fasziniert ab dem Jahr 1997 Kinder auf der ganzen Welt. Geboren wird das Tamagotchi in Japan. Dort wünschen sich viele Kinder ein Haustier. Aus verschiedensten Gründen können Eltern diesen Wunsch jedoch nicht erfüllen. Daher überlegt sich Aki Maita, Mitarbeiterin beim japanischen Spielehersteller Bandai, zumindest einen digitalen Freund zu entwickeln. Wie ein echtes Haustier hat das kleine Wesen Bedürfnisse. Dadurch sorgt es innerhalb kürzester Zeit für helle Begeisterung. Allerdings auch für große Trauer und genervte Eltern. Denn von Anfang an ist klar: Das Tamagotchi wird sterben.

Spiel mit mir, sonst bin ich tot

Das kleine, bunte Gerät mit den drei Knöpfen muss ständig griffbereit sein. Denn wenn die integrierte Uhr gestartet worden ist, erscheint ein Ei auf dem Bildschirm. Aus diesem schlüpft kurze Zeit später ein digitales Küken. Das macht fortan die eigenen Bedürfnisse durch regelmäßiges Piepsen deutlich. Wer sein Tamagotchi nicht ausreichend versorgt, füttert oder beschäftigt, der hat nicht lange Freude an seinem digitalen Haustier. Der Tod gehört zum Spielprinzip. Daher entwickeln Millionen Kinder weltweit den unbändigen Ehrgeiz mit nur einem Ziel: Mein Tamagotchi darf nicht sterben, jedenfalls nicht so früh.

Das Leben eines Tamagotchis gleicht allerdings in etwa dem einer Stubenfliege, zumindest was die Dauer angeht. Viel älter als 20 Tage wird kaum einer der digitalen Freunde. Selbst die Erfinderin Aki Maita bringt es nur auf maximal 18 Tage, wie sie später in einem Interview zugegeben hat.

Auch in der digitalen Welt tritt der Tod plötzlich ein und sorgt für traurige Kinderaugen. Bei der ersten Version der Tamagotchi-Eier stirbt nicht nur das digitale Haustier, sondern das Gerät gleich mit. Das bedeutet: Wenn sich das digitale Wesen in einen Engel verwandelt, bleibt für das trauernde Kind nur noch elektronischer Schrott übrig. Auch der Hersteller Bandai fand das wohl etwas verschwenderisch und baut in späteren Versionen eine Art digitale Wiedergeburt ein, einen Reset-Knopf. Das Spiel kann somit von vorn beginnen.

Erwachsene leiden mit und unter den Tamagotchis

Auch wenn das Spielgerät sich vorrangig an Kinder richtet, bringt das kleine bunte Ei auch Eltern und Lehrer an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Wenn die Kinder in der Schule sind, müssen sich die Eltern stellvertretend um Futter kümmern und digital die Windeln wechseln.

Denn aus den Schulen werden die Tamagotchis schon bald verbannt, weil im Unterricht ständig Eier in Hosentaschen oder Schulranzen dazwischen piepsen. Zudem sorgt sich die Lehrerschaft um die angeschlagene Psyche ihrer Schülerinnen und Schüler, ganz abgesehen vom zunehmenden Schlafmangel. Denn viele Kinder bleiben ganze Nächte wach. Es wäre schließlich zu tragisch, wenn das eigene Tamagotchi dahinscheidet, während man selbst gerade schläft.

In einigen Ländern bilden sich sogar Selbsthilfegruppen, in denen Eltern den Tod des Tamagotchis und die damit verbundenen Folgen für das eigene Kind in intensiven Gesprächen aufarbeiten. Das Internet ist damals noch Neuland. Der digitale Friedhof für verstorbene Tamagotchis entwickelt sich allerdings zum ersten Klick-Hit im World Wide Web.

Wenn Sie noch mehr Lust auf kultige Spiele aus den 1990er-Jahren haben, lesen Sie hier weiter.

Der Tamagotchi-Kult endet rasch

Genauso kurz wie das Leben eines Tamagotchis verläuft auch der Rummel um das digitale Wesen. Im Mai 1997 landet das Spielzeug in deutschen Läden, kostet 30 Mark – also umgerechnet 15 Euro. Bereits Ende des Jahres sind nicht nur unzählige digitale Haustiere verstorben, sondern gleich der ganze Kult.

In Deutschland wandern 2 Millionen Tamagotchis über deutsche Ladentheken. Weltweit sind es sogar an die 40 Millionen – für so einen kurzen Zeitraum eine enorme Zahl.

Wie so oft versuchen in der Folgezeit Nachahmer von dem Hype zu profitieren und bringen günstige Alternativen auf den Spielzeugmarkt. An das Original reicht allerdings keines dieser Produkte heran.

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Ja, es lebt noch

Auch Bandai selbst, der Schöpfer der Tamagotchis, versucht immer wieder ein Revival. Ein erster Versuch startet im Jahr 2004 mit dem Tamagotchi Connexion. Das Prinzip bleibt gleich, allerdings können die Geräte über eine Infrarot-Schnittstelle miteinander in Kontakt treten. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten: Tamagotchis können sich verlieben, eine Familie gründen und Nachkommen „zeugen“. Die Connexion-Reihe selbst bringt ebenfalls einige Nachfolgemodelle zur Welt. Ab dem Jahr 2009 gibt es dann endlich auch die ersten Tamagotchis in Farbe.

Inzwischen existieren auch diverse Apps für das Smartphone. Wer immer noch nicht genug von den digitalen Haustieren hat, der kann im Jahr 2017 anlässlich des 20. Geburtstags eine moderne Retro-Version kaufen. Es bleibt allerdings fraglich, ob das Drama um das Tamagotchi als Erwachsener noch genauso viel Spaß macht.

Eines hat das Tamagotchi auf jeden Fall geschafft: Es ist das erste digitale Spielzeug, für das sich nicht nur Jungs interessiert haben. Erstmalig spielen in diesem Ausmaß auch Mädchen mit. Das führt in der Computerspiele-Industrie zu einem Umdenken. Plötzlich kommen immer mehr Spiele auf den Markt, die ganz gezielt Gamerinnen ansprechen. Allein für diese Entwicklung hat sich das ganze Drama um das Tamagotchi schon gelohnt.

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