9. Juli 2024, 17:17 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Netflix-CEO Ted Sarandos glaubt, dass Streaming die Welt sicherer macht. TECHBOOK-Redakteur Woon-Mo Sung findet diese Aussage, so wie sie ist, ziemlich daneben.
Hunderte Millionen von Menschen besitzen mindestens ein Abo bei einem Streaming-Dienst, um sich Filme und Serien aus allen möglichen Sparten anzuschauen. Dass die Plattformen für gute Unterhaltung sorgen, steht völlig außer Frage. Aber macht Streaming die Welt auch sicherer? Das glaubt zumindest Netflix-Chef Ted Sarandos – und damit lehnt er sich ein wenig zu sehr aus dem Fenster, wie ich finde.
Übersicht
- Das sagt Ted Sarandos von Netflix zur Bedeutung von Streaming
- Streaming macht die Welt sicherer? Sarandos widerspricht sich
- Der Fluch und Segen der Streaming-Algorithmen
- Ist nicht am Ende alles gleichermaßen nur gute Unterhaltung?
- Streaming war völlig egal: Corona und Asian-Hate-Crimes
- Streaming macht die Welt nicht sicherer
Das sagt Ted Sarandos von Netflix zur Bedeutung von Streaming
In einem Gespräch mit der „New York Times“ wurde Sarandos unter anderem gefragt, ob Streaming überhaupt gut für die Kultur sei, da Algorithmen dafür sorgen, dass Nutzern eher noch mehr von dem sehen, was sie bereits interessiert. Aber nicht nur denkt der 59-Jährige, dass die Technologie großartig für die Kultur sei. „Ich denke, auf eine seltsame Weise ist [Streaming] bislang großartig dafür gewesen, die Welt zu einem sichereren Ort zu machen.“
Durch das Streamen erhalte man Einblicke in fremde Kulturen auf eine Art und Weise, die einen verständnisvoller und mitfühlender mache, so Sarandos. Als Beispiel nennt er das iranische Scheidungsdrama „Nader und Simin – Eine Trennung“. „Man realisiert während des Schauens, wie viel wir eigentlich gemeinsam haben.“
Streaming macht die Welt sicherer? Sarandos widerspricht sich
Als CEO der immer noch größten Streaming-Plattform der Welt überrascht es nicht, dass Sarandos große Stücke auf diese hält. Dass aber Streaming die Welt sicherer machen soll, halte ich für mindestens naiv und eigentlich auch ziemlich anmaßend. Der erste Gedanke, der mir nach einem abfälligen Schnauben durch den Kopf schoss, war deshalb nur: Bleib‘ mal auf dem Teppich, Ted.
Man muss nicht viel mehr machen, als zwei Sätze weiterzuschauen, um sein Argument für das ach so wunderbare Streaming zu entkräften: Bei seinem eigens gewählten Beispiel „Nader und Simin“ handelt es sich in der Tat um einen großartigen Film. Filmkritiker auf der ganzen Welt haben ihn hochgelobt und auch einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film gab es.
Allerdings erschien er bereits 2011 im Kino – zu einer Zeit also, als das breite Mainstream-Publikum noch gar nicht bei Netflix streamte. In Deutschland beispielsweise startete der Streaming-Dienst überhaupt erst im Jahr 2014. Und: Mit Stand vom 9. Juli 2024 gibt es den Film von Asghar Farhadi auch gar nicht in Deutschland bei Netflix. Trotzdem Danke für den Tipp, ich kaufe ihn mir als Blu-ray.
Auch interessant: Meinung zu Blu-ray-Ende – „Ich möchte am liebsten nur heulen“
Wenn also Streaming die Welt sicherer machen soll, dann auch nur, weil ihm das Kino und die internationale Filmwelt in den vielen Dekaden vorher den Weg geebnet haben. Sarandos ignoriert den Umstand, dass am Ende des Tages nicht das Streaming per se dafür verantwortlich gemacht werden kann. Es geht immer noch um Filme und Serien und die hat es auch schon lange vor Streaming gegeben. Und viele haben auch international für Diskussionen gesorgt.
Der Fluch und Segen der Streaming-Algorithmen
Nichtsdestotrotz glaube ich zumindest nachvollziehen zu können, was Sarandos meint und woher seine Aussage kommt. Produktionen können in der Tat ein Schlaglicht auf Kulturen anderswo oder Subkulturen in unseren eigenen Breitengraden werfen und so zur konstruktiven Auseinandersetzung anregen.
Die breite Verfügbarkeit und Beliebtheit von Netflix und Co. kann in der Theorie die Aufmerksamkeit für solche Inhalte drastisch erhöhen. Und tatsächlich lässt der Streamer mittlerweile in zahlreichen Regionen der Erde originäre Titel produzieren, die, so Sarandos, vor allem mit ihrer Authentizität punkten sollen. Werden diese erst einmal in ihrer Heimat erfolgreich, soll der Netflix-Algorithmus es registrieren und die entsprechenden Titel einem breiteren Publikum ans Herz legen – so geschehen etwa bei „Baby Reindeer“.
Aber funktioniert das auch in der Praxis mit allen Inhalten? Netflix wird selbstverständlich eigene neue Formate, in die man zuvor viele Millionen investiert hat, prominent platzieren, ganz gleich woher sie kommen. Mit etwas Glück nimmt dann ein Titel an Fahrt auf und den Rest erledigen Mundpropaganda und Online-Diskurse. Abgesehen davon bestimmen individuelle Nutzervorlieben das Geschehen. Sarandos‘ Interviewpartnerin erzählt vom Profil ihres Mannes, bei dem er sich den Algorithmus nur für Horrorfilme und -serien „antrainiert“ hat – würde er „Nader und Simin“ empfohlen bekommen?
Wenn Netflix so funktioniert, wie es soll, dann wohl eher nicht. Und Sehgewohnheiten unterscheiden sich sehr stark – warum sollte also jemand, der lieber Grusel oder blutige Action als Arthouse-Weltkino genießt, auf einmal „Nader und Simin“ schauen? Das wäre doch langweilig! Und so könnte diese Perle tatsächlich im Angebotssumpf dieses einen Profils ungesehen versinken. Sarandos scheint mir daher Streaming als Katalysator von globalem Einfühlungsvermögen und für kulturellen Austausch maßlos zu überschätzen.
Auch interessant: Wie viel Nutzer in Europa wirklich für Streaming-Dienste ausgeben
Ist nicht am Ende alles gleichermaßen nur gute Unterhaltung?
Es kommt nicht von ungefähr, dass anspruchsvollere Geschichten und Inszenierungen schon immer weniger Aufmerksamkeit bekamen und damit auch weniger Geld eingespielt haben. So leid es mir tut – in den meisten Fällen interessieren sie einfach nicht sehr viele Menschen. Die breite Masse möchte leicht unterhalten werden, da sollten am besten die Gags und Explosionen gleichermaßen im Minutentakt über den Bildschirm flackern. Langsames Erzähltempo, schwierige Themen, vielleicht ein Ende, das nicht alles angenehm auflöst, das ist leider nicht sehr sexy.
Bollywood (Indien), Nollywood (Nigeria) oder K-Dramen (Südkorea) – sie mögen zwar alle aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen kommen und dadurch auch spezifische Eigenheiten wie Sprache, Mode und Bräuche mitbringen. Doch der Durst nach seichter Ablenkung ist überall derselbe, die Sprache der Unterhaltung ist in vielerlei Hinsicht auf gleiche Weise mainstreamisiert: schöne Menschen, schnelle Schnitte, spektakuläre Kamerafahrten, Krawall und/oder viel Herzschmerz. Die Inszenierung von Filmen und Serien hat sich weltweit dank günstigerer Technik auf einem so hohen Niveau eingependelt wie nie zuvor, sodass sich auch hiesige Produktionen wie „Dark“ nicht vor der Konkurrenz aus Hollywood verstecken müssen. Das war nicht immer so.
Schaut sich die Mehrheit also internationale Produktionen an, weil sie international sind und weil sie mehr über andere Kulturen erfahren möchte? Oder ist sie nicht auch bei ihnen auf der Suche nach den immer gleichen Thrills, die sie bereits von den US-amerikanischen Vorbildern kennt und die dann nur etwas anders verpackt sind?
Es dürfte nicht sehr einfach sein, einen positiven Effekt des Streamings auf die globale Sicherheit nachzuweisen. Womöglich können Filme wie der indische Actionkracher „RRR“ oder das indonesische Gemetzel „The Night Comes For Us“ in Einzelfällen tatsächlich für ein erhöhtes Interesse an ihren Herkunftsländern sorgen. Ich denke jedoch, dass viele nach dem Schauen einfach sagen werden: „Boah, war das geil!“
Streaming war völlig egal: Corona und Asian-Hate-Crimes
Sollte Streaming die Welt jemals sicherer gemacht haben, dann nur zu einem irrelevanten Grad. Man muss nur die Schlagzeilen des Tages bemühen, um zu wissen, dass global eine ganze Menge schiefläuft. Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen mehr Streaming und mehr Sicherheit scheint es jedenfalls nicht zu geben.
Im Gegenteil: Wie unter anderem das Unternehmen NPAW schreibt, stieg während der Corona-Pandemie die Streaming-Nutzung weltweit rapide an. Die Lockdowns zwangen Menschen, zu Hause zu bleiben und deswegen schauten viele vermehrt Filme und Serien. In der Zeit erschienen immer noch viele spannende Neuheiten, wie zum Beispiel 2021 „Squid Game“ aus Südkorea – bis heute die erfolgreichste Netflix-Serie überhaupt.
Zusammen mit dem in den Jahren zuvor eingesetzten Trend zu südkoreanischen Soaps und Pop-Liedern könnte man meinen, die Welt hätte das asiatische Land in seine Arme geschlossen und möchte am liebsten Koreanisch lernen, oder? Zumindest, wenn Sarandos Recht hätte mit seiner Behauptung. Doch gerade zu Beginn der Pandemie nahm international die Zahl an Gewalt- und Straftaten gegenüber Menschen asiatischer Abstammung rapide zu, wie unter anderem die „BBC“ berichtete.
200-Mio-Dollar-Deal GoT-Macher produzieren künftig Filme und Serien für Netflix
TECHBOOK Talk Holt Disney+ bald Marktführer Netflix ein?
Streaming-Anbieter Netflix-Preiserhöhung kommt jetzt auch bei Bestandskunden an
Streaming macht die Welt nicht sicherer
Ein zeitgleicher Anstieg von Streaming und rassistisch motivierter Gewalt? Nein, eine Kausalität will ich beim besten Willen nicht nahelegen, die gibt es auch nicht, und eine Korrelation existiert allenfalls rein zufällig. Was ich damit sagen will: Offenbar kamen all die schönen Filme und Serien nicht gegen politische Führungspersönlichkeiten an, die den Hass gegen diese Personengruppe schürten, zumindest nicht schnell genug.
Macht Streaming also die Welt sicherer? Ganz bestimmt nicht. Aber so sehr ich Ted Sarandos‘ Aussage für zu abgehoben halte, so möchte ich doch abschließen mit einem ehrlich gemeinten: Schön wär’s!